Energie schöpfen. Selbstkritik beenden Teil 1

Selbstkritik kostet Energie

Selbstkritik ist in Deutschland so etwas wie ein Volkssport - ausgeprägter als Fußball gucken, was in Deutschland schon schwierig ist. ;-) Das ist sozusagen guter Ton im sozialen Umgang.

Fels am Strand Photo by Emma Dau on Unsplash

Nur: Wenn Du wenig Energie hast, Du gerade sogar an einem Burnout herumlaborierst und Du so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommen willst, dann gehört zum Energiemanagement dazu, Selbstkritik zu beenden. Denn Selbstkritik ist nicht nur Selbstsabotage pur, insgesamt entweicht Deine Lebensenergie. Oder um es mit den Worten von Andreas Goldemann zu sagen: Selbstkritik haut Dir Deinen ganzen Energiekörper zusammen!

Das Verhalten mit Hirnforschung erklärt

Geht dieses Verhaltensmuster sehr tief, könnten dahinter Kindheitstraumata versteckt liegen. Der Fachbegriff dazu ist “komplexe Traumafolgestörung”. Das ist keine psychische Erkrankung (man ist nicht gaga, schizo oder sonst wie komisch und man muss auch nicht im Kriegsgebiet dafür aufgewachsen sein), sondern es handelt sich um eine Stressfolgeerkrankung (da liegt der Zusammenhang zum Burnout), die sich sehr gut beheben lässt.

Wenn man immer wieder zurückfällt und sich selbst kritisiert, obwohl man das lassen wollte, dann handelt es sich höchstwahrscheinlich um emotionale Flashbacks aus früheren Lebensabschnitten. Flashback meint nicht, dass Du einen konkreten “Film” von etwas Unangenehmen aus dem Vergangenheit vor Deinem inneren Auge siehst, (wie z.B. damals gab es einen Autounfall und nachts träumt man oft, wie eine Scheibe ungebremst auf einen zukommt). Du wirst nur emotional in die Situation von damals - was auch immer es war - zurückgezogen. Das Leben (“der Film”) heute vor Deinen Augen sieht deutlich anders aus, er fühlt sich nur genauso an.

Beispiele, wie man zur Selbstkritik kommt

Schule als Beispiel: Ein Sechsjähriger kommt in die erste Klasse. Die erste Klasse entpuppte sich als dauerhaft blöd. Vielleicht war es nur zu laut, vielleicht gab es stärkere Bullies. Das Nervenkostüm des Sechsjährigen war dafür nicht ausgelegt. Die Eltern können wenig für den kleinen Kerl in der ersten Klasse tun. Sie sitzen nicht dabei und im Zweifel haben sie ihre eigenen Themen. Sie sind froh, dass der Kleine “gut” in der Schule versorgt ist. Der Kleine wird schlicht untergebuttert, will sich aber durchsetzen, nur gelingt es im ersten Schuljahr nicht. Um zumindest das Gefühl von Selbstdurchsetzung zu erhalten, fängt der Junge innerlich an, das Verhalten der anderen Kinder vorweg zu nehmen, sprich: sich selbst klein zu machen. Denn innerlich hat er Kontrolle über das, was er tut.

Ein anderer Klassiker: man war Kritik im Außen ausgesetzt. Lehrer, Eltern, Trainer, Ausbilder usw. usw. usw. Neulich saß ich friedlich auf einer Bank und wartete auf die Regionalbahn. Plötzlich pfiff ein paar Meter von mir entfernt eine Mutter ihre ca. 12 jährige Tochter in einem Ton an, dass ich fast von der Bank fiel. Die Tochter sei sogar zu blöd zum Taubenfüttern (was das Mädchen gerade mit ihrem Brötchen machte). Wow, Vögelfüttern am Bahnhof nutzen, um die eigene Tochter einen Kopf kürzer zu machen - was für eine elterliche Glanzleistung.

Manchen Kindern macht solch skurriles Verhalten der Erwachsenen nichts aus, die kommen resolut auf diesem Planeten an und denken sich nur: “Man, hat Mutti/der Chef/die Ausbilderin heute einen schlechten Tag!” Doch die allermeisten können das noch nicht und fangen an, diese Kritik vorweg zu nehmen, um zumindest innerlich das Gefühl von Vorhersehbarkeit und Selbstdurchsetzung aufrecht zu erhalten.

Noch ein absoluter Klassiker sind Mobbingzustände im Arbeitsumfeld.

Im Grunde sind das alles Beispiele dafür, dass das eigene Nervensystem Stress ausgesetzt war, und die Möglichkeiten zur Verarbeitung des Stresses (Abbau von Adrenalin etc., beruhigendes Umfeld) im Vergleich zum Stressor zu gering sind.

Kind allein auf Wiese sitzend Photo by 🇸🇮 Janko Ferlič on Unsplash

Glaubenssätze kommen frei Haus mitgeliefert

Steckt man in einem Flashback fest, kommen dazu meist auch stereotype Glaubenssätze. Oft sind diese unbewusst. Im Geist spiegeln sie die Sätze wieder, die damals häufig im Außen geäußert wurden. “Bist Du denn zu allem zu blöd!?!”, “Kannst Du nie was richtig machen!?!”. “Jetzt konzentrier Dich halt mal!”

Diese Aussagen müssen nicht unbedingt in sprachliche Sätze ausgedrückt worden sein. Es können auch abwertende subtile Gesichtsausdrücke oder Gesten von Kontaktpersonen damals gewesen sein. Nun hören wir diese stereotypen Sätze im Inneren zu uns selbst sagen oder wiederholen die Gesten, ohne dies bewusst zu steuern. Kennzeichen ist, dass sie immer das Gleiche sagen oder vorsprachlich zu verstehen geben und geradezu in Stein gemeißelt sind (der psychologische Fachbegriff ist Introjekt).

Ich hatte letztens einen Artikel eines Traumatherapeuten gelesen, der einen schon seit vielen Jahren erfolgreichen, gutaussehenden Schauspieler in der Therapie hatte. Oft kam der Klient zu ihm in die Sitzung und erklärte mit tiefer Überzeugung, er wäre einfach zu hässlich und dumm für alles. Erfolg im Außen hilft eindeutig nicht gegen diese Glaubenssätze. Was auch nicht hilft, wenn wir versuchen andere zu verleiten, uns ständig zu loben. Die Stimme im Kopf will nicht aufhören: Immer die gleichen inneren, quälenden Sätze der Kritik, egal, wie erfolgreich oder nicht man im Außen ist…

Verschiedene Techniken und ihre Wirkung

Leider kann Selbstkritik sehr, sehr tief gehen. Ich habe in all den Jahren noch keinen Knopf gefunden, mit dem man Selbstkritik einfach abstellt. Zwar lassen sich die Gedanken für eine Weile unterdrücken.

Die klassische Technik aus der Verhaltenstherapie: Immer wenn ich mich bei einem ungünstigen Gedanken oder Gefühl erwische, sage ich zu mir selbst “Stopp. Ich denke oder fühle bewusst etwas anderes, Positiveres!, funktioniert durchaus, kostet aber Energie. Bei Energiemangel/Burnout ist das auf Dauer ungünstig und tief geht diese Art der Heilung (“So, ich habe nun verstanden, dass ich mich nicht mehr kritisieren sollte, dann lass ich das jetzt mal!”) nicht. Ganz sicher erwischt Du Dich früher oder später dabei, Dich dafür zu kritisieren, dass Du Dich gerade bei Selbstkritik erwischst. ;-)

Auch die Technik der Schamanen: ich puste ungünstige Gedanken und Gefühle in Blätter und entlasse die Blätter in ein Feuer oder in einen Fluss, Bach etc., bringt Dich ein gutes Stück näher, doch meiner Erfahrung nach, hält die Wirkung nicht ewig. Es ist ziemlich aufwendig, das regelmäßig wiederholen zu dürfen. Auch Vergebenstechniken, wie Ho’oponopono, Visualisierungstechniken oder Selbstkritik besingen, wie es Andreas Goldemann anbietet, bringen Dich weiter. Wenn es Dir gut tut, prima. Gib es nicht auf.

Ans Ziel, Selbstkritik tiefgehend zu heilen, hatten diese Möglichkeiten mich allerdings noch nicht gebracht. Für mich fehlte ein Puzzleteil.

Mann auf Bootssteg

Selbstdurchsetzung als Quelle der Selbstkritik wahrnehmen

Ein Zugriff aus der Traumatherapie auf dieses Thema hatte für mich eine sehr tiefgreifende Veränderung gebracht: Selbstdurchsetzung gehört zu unserem Bauplan als Menschen. Das können wir nicht abstellen und ist auch im zarten Kindesalter enorm wichtig. (Alle Kinder kommen z.B., schon bevor sie sprechen können, zu dem Punkt: Mama, alleine! Papa, ich, ich, ich!)

Insofern ist der Versuch, Kontrolle in Situationen zurückzugewinnen, in denen wir Kritik oder sogar Mobbing im Außen ausgesetzt waren, ein natürlicher Überlebensmechanismus!! Wenn es uns als Kinder getroffen hat, war es besonders verheerend, weil wir notwendig auf die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe bzw. auf die Bindung zu den Eltern gepolt sind. Kinder können nicht alleine überleben und sie können am Außen wenig bis nichts alleine ändern. Die Notwendigkeit von Bindung und Selbstdurchsetzung gleichzeitig prallen bei Kindern in besonderem Maße (aber auch bei Erwachsenen) innerlich aufeinander, wenn das Äußere nicht unterstützend und wohlwollend ist.

Durch die innerliche Vorwegnahme dieses Stresses in Form der Selbstkritik bekommt man als Kind das Gefühl der Selbstdurchsetzungsfähigkeit zurück und behält die Bindung zu den jeweiligen Bezugspersonen. Später im Leben setzen wir das Verhalten unbewusst fort: Damals hat es damals uns geholfen, wir sind sehr geübt und es hat sich unbewusst tief eingeprägt. Dummerweise: So wenig, wie sich damals im Außen etwas geändert hat, ändert sich später im Leben dadurch nichts. Hinzu tritt der permanente Energieverlust.

Selbstdurchsetzung und Bindung

Selbstdurchsetzung können wir nicht abstellen. Wozu sollten wir hier auf dem Planeten herumturnen, wenn wir uns nicht selbst erfahren und etwas erreichen könnten? Bindungsbedürfnisse können wir auch nicht so ohne weiteres abstellen (wobei das als Erwachsener einfacher wäre, so man den Bedarf dazu sieht. Allerdings haben alle, die ich dabei beobachten konnte, wie sie ohne viel Bindung zu anderen Menschen ihr Leben erfolgreich leben, ihr Bindungsbedürfnis durch Tiere, Mutter Erde oder einer höheren Instanz aktiv gestaltet. Also bindungsfrei würde ich das nicht bezeichnen).

Doch aus der fehlenden Möglichkeit im Außen in bestimmten Lebenssituationen (Eltern, Schule, Ausbildung, Arbeitsplatz …) etwas überhaupt oder zumindest schnell zu ändern und der inneren Reaktion darauf entstehen im Gehirn abgespeicherte kleine Feedbackschleifen, die programmartig ablaufen. Und heute: wann immer ein (meist völlig unbewusster) Trigger auftritt, schwupps, gehen die Gedanken der Selbstkritik von ganz alleine los. Das Gefühl von damals klebt auf dem aktuellen Geschehen (Flashback!). Immer und immer wieder. Ein Trigger ist in diesem Falle ein innerliches, blitzschnelles, völlig unspezifisches Erkennen - ah, das sieht aus wie damals -, ohne, dass wir davon etwas bewusst mitbekommen. Die Situation muss nur ganz ungefähr so ähnlich sein.

Z.B. der Mensch damals, der Dich viel kritisierte, trug gerne Tennissocken, auf die Du als Kind während der Kritik gestarrt hast. Schon geht das Programm “Selbstkritik” heute los, wann immer Du etwas Weißes am Boden aufblitzen siehst, ohne dass Dir das auch nur ansatzweise bewusst wird.

Wirkung der kleinen erlernten Programme

Wenn es in der Kindheit gut läuft, und man im außen Zuspruch und Selbstdurchsetzung erfahren konnte, hat man viele kleine selbst unterstützende Programme gelernt. Sie tragen uns durchs Leben. Dann weißt Du, wie und wann Du Dich durchsetzen kannst, ohne anderen Schaden zuzufügen (Selbstdurchsetzung und Bindung gleichzeitig gelebt). Du weißt, wie Du Dich nach stressigen Erlebnissen selbst beruhigen kannst, ohne zu Alkohol oder Schokolade greifen zu müssen. Lebensenergie steht frei zur Verfügung.

Kind macht Erfahrung Photo by 🇸🇮 Janko Ferlič on Unsplash

Tja, und wenn es nicht Zuspruch sondern Kritik und Abwertung war?

Ist es dauerhaft stressartig zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben gewesen (die kleinen Programme im Hirn speichern sich um so tiefer ein, je stärker sie mit Angst-Gefühlen bzw. Stresshormonen unterlegt werden), desto mehr machen wir uns schon als Kinder klein.

Ein: “Jetzt hab Dich doch nicht so!”, oder: “Nun gib doch mal Ruhe!” Oder: “Ein Indianer kennt kein Schmerz!” sind alles Klassiker aus unserer Kindheit. Gesellschaftliche, ängstliche Vorstellungen (“Mach doch erstmal Deine Ausbildung fertig!”, “Das ist doch Dein erster Job, den kannst Du nicht gleich aufgeben!” “Sei doch froh, dass Du eine Festanstellung hast!” “Komm, Du hast Kinder, da kannst Du doch Deine Ehe nicht gleich aufkündigen!”, blablabla) sind wunderbar unterstützend dafür, in solchen Endlosschleifen zu verharren.

Nervenberuhigung und Selbstbestätigung, dass alles auch in herausfordernden Zeiten ok ist, lernen wir damit nicht.

Was bringt Dir diese Erklärung zur Ursache?

Es hat ein bisschen gedauert, bis ich akzeptiert hatte. Selbstkritik ist ein Schutzmechanismus und Schutzanteil in uns selbst und kein Selbstsabotageprogramm. Diese Akzeptanz - im Grund Selbstakzeptanz - war der erste Schritt zur Heilung. Tiefes Mitgefühl für sich selbst und im Anschluss für andere Menschen (und eben nicht Selbstmitleid) kann aus dieser Akzeptanz wachsen.

Den ersten Schritt zur echten Lösung

Akzeptanz der inneren harten Glaubenssätze sowie der Selbstkritik als Schutzanteil in sich selbst (die man nicht einfach “wegmachen” kann, sollte, oder überhaupt will), war für mich der Anfang zur nachhaltigen Heilung.

Die weiteren Schritte kommen in Teil 2 zu diesem Thema. :-)